«Meine Qualitäten waren plötzlich nichts mehr wert»

Über 150 Absagen hat Stefan Isler erhalten, bevor er vor kurzem wieder eine Stelle fand. Der wahre Grund, warum ihn keine Firma wollte, blieb jedoch tabu.

Erich Aschwanden
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Stefan Isler musste erfahren, dass Erfahrung bei der Stellensuche nur wenig zählt. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Stefan Isler musste erfahren, dass Erfahrung bei der Stellensuche nur wenig zählt. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Fester Händedruck, klarer Blick, bestimmtes Auftreten – wer Stefan Isler gegenübersteht, merkt sofort: Hier begegnet man einem Menschen mit grosser Lebenserfahrung, der in seinem Berufsleben schon manchen Sturm überstanden hat. Auf diese jahrelange Erfahrung und seine unbestrittenen Qualifikationen als Kaderangestellter setzte der damals 56-Jährige, als er sich vor vier Jahren «selber wegrationalisierte», wie er sich ausdrückt.

Nachdem er als Supply-Chain-Manager einer Baustoffproduzentin den Neubau eines Logistikgebäudes erfolgreich abgeschlossen hatte, kündigte er von sich aus. Schneller, als ihm lieb war, fand sich der Logistikfachmann auf dem Boden der Realität wieder. «Niemand hat auf mich gewartet. Die Qualitäten, die ich mir während meiner langen Karriere erarbeitet hatte, waren plötzlich nichts mehr wert», wird Isler brutal bewusst.

Zunehmend unter Druck

Doch abzuwarten und einfach die Hände in den Schoss zu legen, ist nicht die Sache von Stefan Isler. Mit Unterstützung des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums feilt er an seinem Dossier und bewirbt sich aktiv um jede Stelle, «für die ich mich nicht unter Wert verkaufen musste». Dabei versucht er möglichst exakt auf die Anforderungen einzugehen, wie sie in den jeweiligen Stelleninseraten aufgeführt sind.

Mal für Mal wird er enttäuscht. Über 150 Absagen landen in den nächsten Jahren auf seinem Pult. Er habe sich zunehmend unter Druck gefühlt, weil ihm alle Türen verschlossen geblieben seien. «Es ist bitter, wenn man keine Chance erhält. Ich war enttäuscht, dass man sich in vielen Unternehmen gar nicht mit meiner Bewerbung auseinandergesetzt hat und die Personalverantwortlichen mein Motivationsschreiben wohl meist gar nicht gelesen haben», sagt er, auf diese harte Zeit zurückblickend.

In den meisten Fällen wird er von den Arbeitgebern mit Standardfloskeln abgespeist. Diese lauten etwa: Sie sind überqualifiziert für die ausgeschriebene Position, wir haben besser geeignete Kandidaten gefunden, oder: Ihr Wohnort liegt zu weit vom künftigen Arbeitsort entfernt. «Das Letztgenannte wurde mir beschieden, ohne dass ich gefragt wurde, ob ich bereit wäre, für den neuen Job umzuziehen», erinnert sich Isler, der in Koblenz im Kanton Aargau wohnt.

Wirtschaft ist zu kurzlebig

Einen Grund, warum er nicht einmal eine Einladung für ein Vorstellungsgespräch erhält, bekommt er allerdings nie zu hören: Sie sind zu alt für uns. Das sei offenbar ein Tabu. «Man braucht offenbar Ausreden, weil man den älteren Stellensuchenden den wahren Grund nicht zu nennen wagt», konstatiert Isler, ohne deswegen wütend zu werden. Das Problem sei die Arbeitswelt, wo Qualitäten wie Erfahrung und Sachkenntnisse nichts mehr zählten. «Niemand scheint über einen Zeithorizont von fünf Jahren hinauszudenken. So ist anscheinend normal, dass Software-Verantwortliche in diesem Rhythmus ausgewechselt werden», wundert er sich.

Doch Stefan Isler wich nie von seiner Überzeugung ab, dass er dank seinem Alter Potenzial habe und wieder eine Stelle finden werde, die seiner Qualifikation entspreche. So traf es sich ausgezeichnet, dass sein Wohnkanton Aargau das Projekt «Potenzial 50 plus. Die Qualifikation zählt, nicht das Alter» startete. Er stellte sich als Botschafter für die Kampagne zur Verfügung. Während mehrerer Wochen hingen überall im Kanton Plakate mit seinem Konterfei und der Textzeile «Stefan, 35». Mit 35 sind die Jahre an Berufserfahrung gemeint, die er sich erarbeitet hat. Die Reaktionen auf dieses «Outing» seien durchweg positiv gewesen. «Es hat mich beflügelt, auf diese Weise aktiv zu werden und gewissermassen das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen», erklärt Isler.

Generell lobt er die Zusammenarbeit mit den Beratern des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums, die ihn sehr gut betreut und gefördert hätten. Schade findet es Isler jedoch, dass bei der Betreuung zu starkes Gewicht auf die Gestaltung des persönlichen Dossiers gelegt wird. Wie man sich als Arbeitssuchender präsentiere, sei zwar wichtig, dürfe aber nicht wichtiger werden als die eigentlichen Inhalte, also die Berufserfahrung und die Qualität der bisherigen Leistungen.

Nachdem es in einer im September 2014 angetretenen Stelle nicht wie erhofft geklappt hatte, hat Stefan Isler am 1. April wieder einen Job angetreten, der ihn mit Begeisterung erfüllt. Als Leiter Logistik der Firma Cruspi AG im zürcherischen Dällikon will er noch einmal durchstarten: «Es ist eine riesige Motivation, noch einmal zu zeigen, was man kann, wenn man mit fast 60 Jahren noch einmal eine solche Chance erhält. Manchmal muss ich mich fast bremsen», ist er sich bewusst. Schon heute ist für ihn klar, dass bei der Suche nach seinem Nachfolger auch ältere, gut qualifizierte Bewerber eine Chance haben sollen. «Doch so weit ist es noch nicht. Es liegt in den Genen unserer Familie, eher länger zu arbeiten», meint Isler lachend.

Älteren eine Chance geben

Der erfahrene Berufsmann findet es positiv, dass die Situation von älteren Arbeitnehmern stärker zum Thema wird, unter anderem durch den von Bundesrat Johann Schneider-Ammann organisierten runden Tisch. Doch Isler warnt davor, sich zu stark auf diesen Aspekt zu konzentrieren. Daneben dürfe die Jugendarbeitslosigkeit nicht vergessen werden. Sorgen bereiten ihm die Entwicklungen im Bildungswesen: «Die Generation, die gegenwärtig zur Schule geht, hat meines Erachtens die schlechteren Voraussetzungen als wir, sich in der Arbeitswelt gute Erfahrungen zu verschaffen. Wir müssen aufpassen, dass sich ihre Startbedingungen nicht weiter verschlechtern.»

Die Chancen von qualifizierten Arbeitnehmern über 50 könnten letztlich nur die Unternehmen selber verbessern, ist Isler überzeugt. Indem sie sich von der herrschenden Schnelllebigkeit verabschieden und älteren Stellensuchenden die Chance bieten, sich persönlich vorzustellen. An die Politik hat Stefan Isler nur einen Wunsch: «Viele Politiker sind Verbandsvertreter und sitzen im Verwaltungsrat von Unternehmen. Hier können sie sich ganz gezielt dafür einsetzen, dass Ältere nicht diskriminiert werden.»

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